Das Orgelmärchen von Nidern Owisheim
Erzählt von den Gebrüdern Overmann, aufgeschrieben von Martin Kares
Es war einmal eine unglückliche Kirchenorgel. Einst war sie die Königin der Instrumente in einem Dorf im schönen Kraichtal, hatte aber in ihrem bald zweihundert Jahre alten Leben schon manches Leid und Unglück erfahren. In den letzten Jahren jammerte und heulte sie oft einfach nur noch still vor sich hin und war sich überhaupt nicht sicher, ob sie noch geschätzt und geliebt wurde oder ob sie nicht doch vielleicht gegen ein elektronisches Tastenmöbel oder ein Zupf- oder Schlagzeug ausgetauscht werden würde. Dies ist ihre Geschichte:
Wilhelm Overmann aus Heidelberg, schätzte offenbar die griechische Antike. Vielleicht hatte dies damit zu tun, dass sein Betrieb immer mal wieder ziemlich verschuldet war, aber vermutlich war es eher die Zeitepoche der Geburt der Orgel zu Nidern Owisheim, die nach dem schwülstigen Barock in klassizistischer Schön- und Einfachheit ihren Gefallen fand. So erinnert das Gesicht der Königin, der Prospekt, durchaus an Gestaltungsprinzipien griechischer Tempelfassaden: Ein flacher, dreieckeiger Giebel wird von Säulen getragen, die auf einem kräftigen Sockel ruhen.
Ach ja, das Gesicht: Mehrfach hat es sein Aussehen verändern müssen. Zu Beginn setzte Anton Overmann glänzende Zinnpfeifen in die Schauseite, sodass das Sonnen- und Kerzenlicht sich fein in den Oberflächen spiegeln konnte. Doch kurz vor dem 90-jährigen Geburtstag der Schönen kam ein fremder Orgelbauer zusammen mit einem schnauzbärtigen, strengen Herrn mit Pickelhaube und Uniform auf die Empore, welche die Prospektpfeifen erst vermaßen, wogen, mit Stiefeln zu Zinnklumpen zusammentraten und schließlich von der Empore schleppten. Fast zehn Jahre lang musste die Königin warten, bis wenigstens billiges Dachrinnenblech die Löcher in ihrem Antlitz schloss. Erst ein halbes Jahrhundert später hatte die Gemeindefamilie ein Einsehen und die finanziellen Mittel, ihr wiederum echte Zinnpfeifen zu spendieren. Dabei kam es den edlen Spendern weniger auf eine präzise Rekonstruktion als auf ein angenehmes Äußeres und besseren Klang an - ein Paßbild aus alter Zeit existiert leider ohnehin nicht. Mit den Jahren verblasste inzwischen der Zinnglanz etwas, bei der jetzigen Kur wurde dem Antlitz doch durch behutsame Politur ein frisches Lifting verpasst. Der Rest des Gesichtes blieb weiß geschminkt - obwohl sich darunter edles Eichenholz befindet. Die Modeberater waren sich noch nicht einig, ob die Schminke schon bald nach der Geburt aufgetragen wurde oder erst deutlich später. Aber sei es darum: Nach dem Motto "mehr Sein als Schein" kann man bei der nächsten Kirchenrenovierung über diese Frage immer noch entscheiden…
Auch der übrige Körper der Königin musste etliche operative Eingriffe überstehen: Irgendwann waren den Organisten aus Unteröwisheim die Orgelfüße, sprich Pedale, zu kurz: Zu wenige Tasten. Sie wollten unbedingt Musik spielen, für die Durchlaucht eigentlich gar nicht gebaut war. Anstatt süddeutsch gemütlicher Liegetöne sollten plötzlich aufgeregte norddeutsche Pedalsoli dargeboten werden. Also amputierte ein geschäftstüchtiger Orgelvandale das Baßwerk und ersetzte es durch ein größeres mit vielen bunt zusammengewürfelten Pfeifen, welches irgendwie auswärts und scheppernd klang und sogar das Aussehen der Schönen entstellte: Große Pfeifen ragten hinten auf einer Seite aus der klassischen Symmetrie des Prospektes heraus und verpassten ihm eine optische Schlagseite.
Zu allem Übel wurde der Monarchin eine Stimmbandoperation verpasst: Einige rund und weich klingende Klangfarben wurden entfernt und durch kleinfüßige Schreihälse ersetzt. Alles der damaligen norddeutschen Mode zuliebe. Statt voluminöser Keilbalg-Lungen fanden sich schwindsüchtige Schwimmerbälglein ein, die von einer hochtourigen Windmaschine zwangsbeatmet wurden. Die kräftige Stimme der Königin wich einem verzagten Fauchen und Lispeln, so als würde sie sich schämen, selbstbewusst aufzutreten.
Mit die schlimmste Operation an der Edlen betraf ihre vornehme Anlage für das Spiel, die aus wertvollen Hölzern und Bein gefertigt war. Auch vor den daran anschließenden Eingeweiden, sprich Trakturen, wurde nicht Halt gemacht. Alles wurde aus ihr herausgerissen und durch Serien-Implantate aus Kunststoff und Leichtmetall aus der Orgelfabrik ersetzt. Es war wirklich keine Freude mehr, sie in diesem Zustand anzuschauen.
Vor zwanzig Jahren glaubte man, dass das Ende der Orgelkönigin gekommen sei. Ein Gewittersturm entlud sich über Unteröwisheim und das windzerzauste Kirchendach ließ Wasserströme ein, die in ihr Oberstübchen gelangten. Das Nass ließ ihre Kanzellen quellen, erweichte die Ventilleder und bei der anschließenden Zwangstrocknung spürte sie ein unheilvolles Reißen, Ziehen und Schrumpeln und mancher unangenehme Wind entwich ihren Gedärmen.
Sie war dankbar, dass bis vor kurzem sie trotz all der geschilderten Qualen und Entstellungen immer noch von netten Orgelspielmenschen befußelt und befingert wurde. Vielleicht waren es ihre guten Gene und eine Ahnung eingeweihter Personen, die immer an das glaubten, was eigentlich in ihr steckte, die sie gerettet haben.
So war es denn auch eine Freude, dass diejenigen gutmeinenden Orgelbau-Doctores, welche die Hochwohlgeborene seit nunmehr 30 Jahren gut kannten und seither am Leben erhalten haben, von der Orgelkrankenkasse beauftragt wurden, sie gründlich zu kurieren und ihr ein Vier-tes (Die ausführende Orgelbaufirma heißt Martin Vier) Leben zu schenken. Die eineinhalbjährige Narkose im Schwarzwälder Operationssaal hat sie offenbar gut überstanden und gar nicht mitbekommen, dass sie in alle Einzelteile zerlegt, von zahlreichem Unrat und Geschwüren befreit, gründlich repariert und wieder in alter Qualität zusammengesetzt wurde. Manche spätere Zutat durfte bleiben, wenn sie ihre Funktion gut erfüllte oder die gegenwärtigen Orgelspieler sie nicht mehr missen wollten. Nun leben ihre Trakturen wieder in geordneten Verhältnissen, passende Klaviaturen sehnen sich nach zärtlichen Berührungen und auch die erneuerten Lungen bremsen ihre Sangeslust nicht mehr. Die Stimmbänder sind geölt, die Lippen gespitzt, die Zungen gelockert und froh gestimmt freut sie sich auf das Musizieren für und mit hoffentlich vielen Kirchenmäusen.
Die gesetzliche Krankenkasse hätte nur bezahlt, dass die Königin wieder zurechtgeflickt worden wäre. Zum Glück fließt durch Unteröwisheim aber ein besonderer Bach, an dessen Ufer genügend privates Moos geerntet werden konnte (der Vorsitzende des Orgelfördervereins heißt Martin Mosebach...), sodass eine umfassende, liebevolle Behandlung möglich war. Sie wird ihm auf ewig dankbar sein."
Und weil sie nicht gestorben ist, erlebt unsere Overmännin künftig hoffentlich viele schöne Jahre in besagtem Dorf im schönen Kraichtal.
- Orgel des Monats November 2016 in Unteröwisheim
Das Instrument in der Kreuzkirche spricht viele Spender an