„Diese Orgel können Sie auch in 300 Jahren noch restaurieren“
Ein Besuch in der Orgelbauwerkstatt Ahrend in Leer
Hendrik Ahrend ist ein ruhiger Mann. Fragen beantwortet der 60-Jährige bedächtig und ausführlich, seine Sprache ist norddeutsch gefärbt. Ahrend ist gebürtiger Ostfriese, „gleich hier neben der Werkstatt zur Welt gekommen“. Als Junge schaute er seinem Vater Jürgen über die Schulter. Der war Mitte der 1950er Jahre ein junger Orgelbauer, der sich gegen den Zeitgeist stellte. Er orientierte sich gewissermaßen rückwärts an der traditionellen Handwerkskunst. Dabei ging es ihm weniger um die nostalgische Tradition, vielmehr war ihm klar: Es geht gar nicht anders, wenn man ein guter Orgelbauer werden will. An dieser Einstellung hat sich bei Orgelbau Ahrend bis heute kaum etwas geändert.
„Mein alter Herr hat mich geprägt“, erzählt Hendrik. Seine Augen leuchten dabei und man spürt: Hier ist echte Familientradition im Spiel. 93 Jahre ist Jürgen Ahrend heute alt „und hat in mehr Orgelpfeifen hineingeblasen und sie intoniert als irgendein anderer Mensch auf der Welt zu allen Zeiten“. Noch immer hängt seine Baskenmütze in der Werkstatt. Und seine Prinzipien bestimmen weiterhin, wie dort gearbeitet wird. Dass Sohn Hendrik einst in die Fußtapfen des Vaters treten würde, war selbstverständlich – könnte man meinen. „Nicht ganz“, meint der. Natürlich habe er nach dem Abitur 1983 im väterlichen Betrieb mitgebarbeitet und auch eine Orgelbaulehre absolviert – die aber in Neubulach in Baden-Württemberg. Für einen Ostfriesen also am anderen Ende der Welt. Danach kam ein weiterer Exkurs: 1989 studierte Hendrik Amerikanistik und Sportwissenschaft. Um dann aber in den Norden und zum Orgelbau zurückzukehren.
Nun also doch wieder Loga, das ist einer der größeren Stadtteile von Leer, der niedersächsischen Kreisstadt mit um die 35.000 Einwohnern. Die Werkstatt liegt in einer ruhigen Gegend, ein paar Betriebe gibt es dort, aber überwiegend Wohnhäuser. Die Türen stehen offen, denn das Wetter ist mild, vor dem Holzlager sind Vogelstimmen zu hören. Wie als Antwort darauf erklingen immer wieder kurze helle Töne aus der Werkstatt. Das ist Haidy Ronke, die an kleinen Pfeifen arbeitet und prüft, ob sie auch klingen. Manchmal bekommt sie eine Erwiderung vom anderen Ende der Werkstatt: Vincent Pfaffen, der eigentlich Büchsenmacher werden wollte, dann aber doch Orgelbauer gelernt hat, sitzt dort. Minutenlang restauriert er hochkonzentriert eine mittellange historische Pfeife. Nachdem er schließlich die Labien justiert hat, lässt er die Pfeife ebenfalls kurz klingen. Man merkt: die Leute arbeiten gerne hier. Manche tun das sogar schon seit Jahrzehnten, Hinrich Manssen beispielweise. Der berichtet von dem denkwürdigen Telefonat, mit dem für ihn alles begann: „Meine Mutter hat mich gerufen, da wäre einer am Telefon, der wissen wollte, ob ich trockene Hände hätte“. Alle lachen, die Anekdote kennt hier jeder. Arno Beitelmann am Nachbartisch kratzt alten Weißleim aus einer Windlade. „Essigsäuren sowohl aus neuerem Eichenholz als auch aus Weißleim lassen die Bleipfeifen korrodieren“, kommentiert Ahrend. Durch Ausstreichen der Windwege mit Kalkfarbe könne man diesen chemischen Prozess stoppen.
Orgelpfeifen in allen erdenklichen Größen
Orgeln in verschiedenen Fertigungsstadien sind hier aufgestellt
Die „Orgel des Jahres 2020“: das gesamte Innenleben ist ausgebaut
Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Gloger-Orgel wieder zurück nach St. Severi in Otterndorf reisen kann
Bei der Orgelrekonstruktion kommt es auf jedes kleine Detail an.
Unzählige Pfeifen aus Otterndorf lagern in der Werkstatt
Alle Pfeifen sind gekennzeichnet
Hendrik Ahrend prüft die Pläne und behält den Überblick
Blick in die Werkstatt
Viele Raummeter Holz jeglicher Art lagert die Orgelwerkstatt
Der Bau oder die Restauration einer Orgel ist so viel mehr als nur die Summe ihrer Gewerke. Es ist eine Kunst, die sich aus vielen Disziplinen zusammensetzt: Neben dem Handwerk fallen einem natürlich gleich Musik und Geschichte ein. Aber auch die Physik spielt eine buchstäblich tragende Rolle. „Größere Pfeifen aus Blei-Zinn-Legierung ab etwa drei Fuß Länge neigen dazu, im Laufe der Zeit unter ihrem eigenen Gewicht in sich zusammenzusacken. Dabei geht es um das ‚Kriechverhalten‘ des Materials, das von der ‚Härte‘ zu unterscheiden ist“, sagt Ahrend. Und das verändert natürlich die Intonation. Um das zu vermeiden, werden besonders gute Legierungen eingesetzt, außerdem wird das Material ausgedünnt, die Pfeife ist an ihrem oberen Ende nur noch ein halb so stark wie unten. Eine entsprechende Maschine besorgt in der Werkstatt genau das. Gute Kenntnisse der einschlägigen Literatur gehören ebenfalls zu den grundlegenden Tugenden des Orgelrestaurators. Denn: „Sie haben es im Orgelbau grundsätzlich mit Ausnahmen und Besonderheiten zu tun“, weiß Ahrend.
Er spielt damit auf die Gloger-Orgel von 1741 aus St. Severi zu Otterndorf an, die er derzeit bearbeitet. Er zeigt auf das dunkelbraune, skelettartige Gehäuse. „Wir haben hier im Orgelgehäuse die Signaturen der Tischler aus dem 18. Jahrhundert gefunden. Das ist zwar bei dieser Restaurierung nicht übermäßig wichtig – der Name des verantwortlichen Orgelbauers ist ja bekannt – bringt uns aber die Geschichte der Orgel und ihrer Erbauer etwas näher.“ Zusammen mit Glogers Notizen und etlichen anderen historischen Quellen liefert der Befund der erhaltenen Substanz wichtige Hinweise darauf, warum vielleicht ein Querbalken gerade so und nicht anders eingebaut ist. Oder warum er zu einem späteren Zeitpunkt entfernt wurde. Manchmal ist es sogar noch komplizierter: Ahrend kannte zwar die Arbeitsweise von Dietrich Christoph Gloger, erinnerte sich aber auch an die die Quellen zu dessen Meister, Erasmus Bielfeldt aus Stade, die ihm weitere methodische Hinweise lieferten. „Orgelrestauration ist auch Detektivarbeit“, sagt er.
Es braucht ein paar Augenblicke, um in der Holzkonstruktion, vor der Ahrend steht, das Instrument wieder zu erkennen, das 2020 zur „Orgel des Jahres“ gekürt worden ist: Das gesamte Innenleben ist ausgebaut, die 2.676 Pfeifen sind über die ganze Werkstatt verteilt stehend gelagert, fein säuberlich beschriftet und nach Registern geordnet. Die originalen Prospektpfeifen gibt es nicht mehr, die musste die Kirchengemeinde 1917 abgeben, denn das begehrte Zinn wurde im Weltkrieg dringend gebraucht. Heute wie damals fertigt man die Innenpfeifen aus einer Blei-Zinn-Legierung („Orgelmetall“).
Windlade: hier kommen später die Register hin (Arno Beitelmann, Catharina Hasenclever und Hendrik Ahrend)
Arno Beitelmann arbeitet an einer Windlade
Arno Beitelmann, Hendrik Ahrend und Catharina Hasenclever begutachten eine Windlade
Nur ein kleiner Teil der Orgelwerkstatt Ahrend in Leer-Loga
Vincent Pfaffen bei der Arbeit an einer Pfeife
Haidy Ronke arbeitet an kleineren Pfeifen
Jede Pfeife ist gekennzeichnet - damit man ihren Sitz wiederfinden kann
Hinrich Manssen beim Ausdünnen des „Orgelmetalls“
Man merkt: die Leute arbeiten gerne in der Orgelwerkstatt
Gegenwärtig klingt hier gar nichts und man braucht ein wenig Fantasie, sich eine klingende Orgel anstatt eines gigantischen Puzzles vorzustellen. Mit tausendfachen Klängen hat das Instrument, als es noch spielbar war, nicht nur die Otterndorfer Gemeinde verzaubert, sondern auch weit über die Region hinaus Orgelliebhaber begeistert. Der „Förderverein zur Rettung der Gloger-Orgel Ottendorf e.V.“ produzierte eine Benefiz-CD, um Gelder für die Restaurierung zu sammeln. Jetzt werden Ahrend und sein Team zaubern und dem Instrument wieder Leben einhauchen.
Anfang 2022 wurde die Orgel in Otterndorf abgebaut und nach Leer gebracht. Zahllose Pfeifen sind bereits restauriert – einigen hatten nicht nur die Korrosion („Bleifraß“), sondern auch mechanische Beschädigung schwer zugesetzt und ihren Klang so sehr entstellt, dass so manches Register nicht mehr zu bespielen war. Auch das Gehäuse ist in Mitleidenschaft gezogen. Ahrend zeigt Stellen, an denen der Holzwurm ganze Arbeit geleistet hat. Hier ist das Holz fachkundig „verformungsgerecht“ ausgetauscht worden. Dann wird es spannend: Wie weit darf eine Restaurierung eigentlich gehen? Was muss original nachgebaut, rekonstruiert werden, weil es zum Restaurierungsziel „Gloger 1741" gehört, und was muss beibehalten werden? Mit diesen Fragen müssen sich Ahrend und sein Team ebenfalls auseinandersetzen, immer wieder neu.
Beispiel Statik: „Das Gehäuse soll nicht nur gut aussehen – das Auge hört ja schließlich mit – es muss auch das Orgelwerk tragen“, erklärt Ahrend. Wo also kann die ganze Konstruktion von hölzernen Zapfen zusammengehalten werden, und wo muss auch Metall in Form von Nägeln oder Schrauben zum Einsatz kommen? Eine Messsingschraube, sagt der Orgelbauer, wirkt dabei „weit weniger invasiv“ als ein rekonstruierter handgeschmiedeter Nagel. Oder die Frage nach den Bleiröhren („Kondukten“), die den Wind zu den Pfeifen leiten: Traditionell wurden die Anschlussstellen mit Hanf und Glutinleim abgedichtet, ein solider Ansatz, der sich jedoch bei der Restaurierung als unflexibel erweist – etwa, wenn es am Pfeifenstock etwas zu ändern gibt. Stattdessen könne man die Kondukten auch reversibel mit Ledermanschetten einsetzen, sagt Ahrend. Das wäre neu, aber nachhaltig.
Antworten zu finden auf die Frage nach dem Erhalten des Originals auf der einen und dem Restaurieren auf der anderen Seite, ist hier in Leer das tägliche Brot. Dem Leitspruch: „Das wurde schon immer so gemacht“ zu folgen, würde zu kurz greifen. Stets muss man entscheiden, was für das Instrument, seinen Klang, seine ästhetischen Aussagen und seine dauerhafte Spielbarkeit das Beste ist. Die Kombination aus traditionellem Wissen und modernen Fähigkeiten ist das Rezept, nach der die Menschen bei Ahrend arbeiten. Genau so, wie es sich schon Jürgen Ahrend auf die Fahnen geschrieben hatte. „Historischer Orgelbau ist diese eine besondere Kunst“, sagt sein Sohn Hendrik. „Wir bewahren alte Techniken für die Zukunft. Ein aus Massivholz in historischer Tischlermanier hergestelltes Gehäuse etwa können Sie auch in 300 Jahren noch restaurieren.“ Genau genommen ist das schon ein kleines Stück der großen Ewigkeit, so wie es jede „Königin der Instrumente“ erahnen lässt: strahlend erhaben, leise schwebend, ihre Zuhörer verzückend und die Zeiten überdauernd.
Diese Reportage ist im Jahresbericht 2022 der Stiftung KiBa und der Stiftung Orgelklang erschienen.