„Ihr habt eine phantastische Orgel!“
Begeisterung für die Restaurierung der 150jährigen Göthel-Orgel in Grünlichtenberg
René Michel Röder ist Kantor, seit 2002 versieht er seinen Dienst im sächsischen Waldheim, gute sechzig Kilometer östlich von Dresden gelegen. Damals wird er kaum geahnt haben, dass sich die Rekonstruktion und Restaurierung der von Christian Friedrich Göthel 1867 geschaffenen Orgel in Grünlichtenberg als regelrechte Schatztruhe entpuppen würde.
Schon früh hatten ihn die Grünlichtenberger auf ihre Orgel in St. Nikolai aufmerksam gemacht. Eine Orgelprobe vor Ort erweckte bei ihm den ersten Eindruck eines nicht unbedingt romantischen, sondern eher neobarockisierten Werkes - Neobarock in dem Sinne, dass alle Klangfarben der Orgel mehr oder weniger unverbindlich „vor sich hin klingelten“, ohne miteinander zu verschmelzen oder sich gar im Raum zu entfalten.
Dann kam die Innensanierung der Kirche. Die Orgel wurde mit Folie eingehaust und sollte nach Abschluss der Bauarbeiten grob neu gestimmt werden. Diese Stimmarbeiten wurden von Johannes Lindner aus Radebeul vorgenommen und gestalteten sich als problematisch; der Windruck schien zu hoch und die Töne neigten zum Umkippen. Röder verglich den Klangcharakter mit einer Primadonna, der man die Kehle zuhält und die trotzdem nach Leibeskräften versucht, laut zu singen. Wo sollte da die hohe Qualität und Bedeutung der Orgel stecken, von der man in Grünlichtenberg geschwärmt hatte? Was musste erst wiederentdeckt werden?
Die reichen Erfahrungen der Mitarbeiter der Fa. Rühle bei der Restaurierung von Silbermannorgeln förderten die Wiederentdeckung zusehends, nach der Überarbeitung der Pfeifen und dem Senken des Winddrucks erlebte Röder ein Wunder: der Klang der Pfeifen entfaltete sich frei und ruhig im Raum und war verschmelzungsfähig wie nie zuvor – wie bei einer echten Silbermannorgel! Nicht umsonst gilt Göthel als bester Silbermann-Kenner und –nachahmer.
Zwar war die ursprüngliche puristische Silbermann-Konzeption schon vor geraumer Zeit unterbrochen: statt der ursprünglich disponierten Posaune 16' im Pedal sollte Göthel einen sachte streichenden Cellobass 8' bauen und statt der spitz glitzernden Sifflöte 1' im Oberwerk ein etwas rauchiges Salicet 8' – das einzige Salicet, das er jemals geschaffen hat. Beide romantischen Modifikationen verschwanden für reichlich fünfzig Jahre aus der Orgel, als man Mitte des 20. Jahrhunderts das Salicet entfernte und der Orgel doch noch ihre 1'-Sifflöte verpasste und den Cellobass 8' zum Choralbass 4' buchstäblich zersägte. In der Nachkriegszeit hatte das gleich zwei Vorteile: einerseits hatte man dem damaligen neobarocken Zeitgeschmack entsprechend noch eine hellere Farbe im Pedal – und andererseits einen Winter lang eine gut geheizte Wohnung…
Glücklicherweise wurden damals jedoch Originalpfeifen der beiden eliminierten Göthelregister auf den Pfeifenstock des neu geschaffenen Choralbass 4' gestellt. Diese waren mit eindeutig zuordenbaren Tonnamen versehen, so dass die beiden Register komplett wieder originalgetreu vervollständigt werden konnten. Lediglich die Rekonstruktion der zwölf tiefsten Pfeifen des Salicet 8' wurde nach bestem Wissen und Gewissen an die vorhandenen Platzverhältnisse angepasst nachempfunden. Der klangliche Übergang zwischen beiden unterschiedlichen Bauarten ist dem Intonateur der Firma Rühle famos gelungen. Bei der Stimmungsart entschied man sich für eine ungleichschwebende Stimmung, allerdings nicht mitteltönig wie bei Silbermann, sondern wohltemperiert in einer für heutige Orgeln vorgeschlagenen Variante der hypothetischen Bach-Stimmung von Bernhard Billeter. Nachträgliche Recherchen bestätigten, dass Göthel tatsächlich noch wohltemperiert nach Neidhardt II stimmte. Seine besonders "reine" Art zu stimmen fand damals allgemeine Anerkennung und bezeugt, dass die gleichstufige Stimmungsart sich Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht endgültig durchgesetzt hatte.
Restaurierungsarbeiten an der Orgel in St. Nikolai
Das Instrument gehört zu den größten erhaltenen Instrumenten des in silbermannscher Tradition stehenden erzgebirgischen Orgelbauers Christian Friedrich Göthel.
Benefiz-Konzert für die Orgelsanierung mit der A-Capella-Band „Notendealer“ im Oktober 2016
Gospelkonzert in St. Nikolai Grünlichtenberg im April 2016
St. Nikolai ist für den Erntedankgottesdienst fetslich geschmückt
Die Grünlichtenberger Dorfkirche trägt den Namen des Schutzpatrones der Kaufleute und Händler, St. Nikolaus (St. Nikolai)
Eine Rundreise zu den Göthel-Orgeln der Region zeigt, dass jeder Orgelbauer an den verschiedenen Instrumenten seine individuelle Handschrift hinterlassen hat, jedoch keine andere Göthel-Orgel hinsichtlich Klangentfaltung, Verschmelzungsfähigkeit und natürlicher Kraft und Brillanz an das Instrument in Grünlichtenberg herankommt. Für Kantor Röder steht fest, dass es sich absolut lohnt und nachhaltig Maßstäbe setzt, wenn man die ursprüngliche Intention eines Instruments erspürt und sich darauf einlässt. Diese wesentliche Grunderfahrung hat er aus den Rekonstruktionen der Tanneberger Ladegast-Orgel und der Grünlichtenberger Göthel-Orgel mitgenommen.
150 Jahre zählt die Orgel in St. Nikolai nun – am 3. Advent 2017 wurde sie feierlich eingeweiht. Gerne hat sich auch die Stiftung Orgelklang an den Restaurierungsarbeiten beteiligt. Röder zeigt sich herzlich beeindruckt: „Ja, Glückwunsch, Ihr hattet Recht! Ihr habt eine phantastische Orgel! Möge sich allezeit jemand finden, der sie immer wieder neu zu entdecken, geschickt zu spielen und farbenreich zu registrieren versteht.“