Die vom Asthma befreite Königin
Gronau an der Leine: ein übersichtliches, reizendes Kleinstädtchen im Süden Niedersachsens. Und es wartet mit einem echten Superlativ auf: Hier steht „die größte Philipp-Furtwängler-Orgel der Welt“. Einst Stolz der Stadt, war sie längere Zeit ein kurzatmiges Sorgenkind. Jetzt wurde ihr zu alter musikalischer Strahlkraft zurückverholfen. Und sie klingt wie neu geboren – wenn es sein muss bis auf den Wochenmarkt.
Lassen wir diese Geschichte mitten im Schwarzwald beginnen, dort, wo die Berge hoch, die Tannen mächtig, der Schinken würzig und die Kirschtorte delikat ist. Wenn die Winter lang waren, bauten die Schwarzwälder einst ihre Uhren, die sie dann ab dem Frühjahr auf Wanderschaften veräußerten und so ihren Ruhm als Uhrmacher begründeten und mehrten, bis der schließlich rund um die Welt ging und heute Kuckucksuhren in Texas und Tokio künden, was die Stunde geschlagen hat.
Am 6. April 1800 wurde hier im badischen Dorf Gütenbach dem Frachtfuhrmann und Bauern Bartholomäus Furtwängler und seiner Frau Helene Dold das dritte Kind geboren. Elf sollten es einmal werden. Der kleine Junge erhielt den Namen Philipp. Wie es aussieht, wurde er im Dorf oder der Region zum Uhrmacher ausgebildet und trieb wohl auch Handel mit den geschätzten Zeitmessern. Zweiundzwanzigjährig zog es ihn aus dem Schwarzwald fort. Seinen Ruhm und seine Karriere begründete er viel weiter nördlich, wo die Landschaft weicher und weiter ist: im Leinebergland in Niedersachsen. Er brachte Gespür und Talent für mechanische Problemstellungen mit und vielleicht hatte er den Zweiklang des Kuckucksrufs seiner Uhren noch im Ohr, den er vertausendfachte und zu immer neuen klängen und Färbungen ausbaute: Philipp Furtwängler, der Orgelbauer mit seinem unternehmen in Elze bei Hildesheim.
Zurück nach Gronau: es duftet bald nach Bratwurst vom grill, dann nach Backfisch, Blumen- und Kräuternoten mischen sich darunter und frisches Gemüse: Freitags ist Wochenmarkt in Gronau, direkt bei St. Matthäi, der Kirche mit dem grünen Helm auf dem 65 Meter hohen Turm – ein Erntedank des landwirtschaftlichen Südniedersachsens. Anfang Juni beweist die Sonne nach einem dunklen Winter wieder ihre kraft. Es ist ein Fest für die Sinne und schon fast so idyllisch, dass Modellbahnbauer hier Maß nehmen könnten für ihre H0-eisenbahnen im Hobbykeller. Allerdings hätte diese Sache einen nicht zu übersehenden Haken: Die Kleinstadt – die es mit sämtlichen Eingemeindungen auf knapp 11.000 Einwohner bringt – hat gar keinen eigenen Bahnhof, verfügt lediglich über einen Haltepunkt im Dorf Banteln. Beschaulichkeit ist ein ziemlich passender Leitbegriff, auch wenn die Honoratioren selbstbewusst auf gute Infrastruktur und ein prosperierendes Gewerbegebiet mit namhaften Ansiedlungen verweisen. Das Markttreiben jedenfalls ist bar jeder Hektik und Anlass für zwanglose Begegnung und Austausch, als sich aus den geöffneten Türen der Kirche wunderbare Musikfragmente vernehmen lassen, die bald den einen oder anderen gast neugierig in die angenehme kühle des Gotteshauses ziehen: es ist „Orgelmusik zur Marktzeit“. Und bei dieser Veranstaltungsreihe wechselt die Szene unmittelbar vom braven Provinzglück hin zu respektabler Hochkultur, die keinen großstädtischen Vergleich zu scheuen braucht. An diesem tag konzertiert Robin Hlinka, der 1998 geborene „Jugend-musiziert“-Preisträger, virtuos und fokussiert auf der „größten Philipp-Furtwängler-Orgel der Welt“, wie ihr Förderverein das Instrument stolz bewirbt. Monatlich ist sie sommers auf diese Weise zu hören, hochkarätige junge Interpreten kommen gerne, um sich an dem außergewöhnlichen Instrument mit seinen kaum übersehbaren Möglichkeiten der Registrierung zu versuchen.
Offene Tür zur Orgelmusik zur Marktzeit
Augenweide in Gold: der Schnitzaltar von 1415
Die Orgel mit Robin Hlinka und Tamara Busch
In bester Verfassung: Spieltisch der Orgel
Gruppenbild mit Furtwänglers Größter (v.l.n.r.): Orgelsachverständige Christine Klein, Orgelbeauftragter der Kirchengemeinde Rolf Papenberg, Organistin an St. Matthäi Tamara Busch, Gemeindepastor Wolfgang Richter, Gastorganist Robin Hlinka, Kirc
Furtwänglers Verbündete vor Ort: (v.l.n.r.): Orgelbeauftragter der Kirchengemeinde Rolf Papenberg, Gemeindepastor Wolfgang Richter, Kirchenvorsteherin Ulrike Papenburg, Kirchenvorsteher Arnd Sawatzki, Kirchenvorsteher Karl-Heinz Hjort
Elze – gleich bei Gronau gelegen (oder umgekehrt, je nach Sicht) – wurde die Heimat von Philipp Furtwängler. Er ist offenbar schnell angekommen: ein Jahr nach seiner Ankunft schloss er mit der Stadt einen Wartungsvertrag für die Turmuhr der St.-Peter-und-Paul-Kirche zu einem jährlichen Entgelt von sechs Reichstalern.
Stadt und Landschaft sind bis heute von der Reformation geprägt. Der katholische Badenser fasste den Entschluss, sich dem glauben seiner Wahlheimat anzuschließen. Am 19. November 1828 trat er zur lutherischen Kirche über. Tatsächlich wohl aus innerer Überzeugung. Wie Zeugnisse belegen, sah sich der Neuprotestant durch seine Glaubensentscheidung glücklich vor menschlicher „Gleichgültigkeit“ und „Verdorbenheit“ bewahrt. Kurz zuvor, am 2. Mai 1828, hatte er Christine Heuer geheiratet, gemeinsam zogen sie fünf Kinder groß. Die Söhne Wilhelm und Pius traten in die Fußstapfen des Vaters, will sagen als Orgelbauer in seinen Betrieb ein. Die Gemahlin starb ihm im Mai 1844 an der Wassersucht. Der Witwer ging am 21. Januar 1845 seine zweite, kinderlose ehe mit Luise Ebeling ein.
Philipp Furtwängler war ein vielseitig interessierter und begabter Mensch. Er kam nicht mit dem Ziel an die Leine, Orgelbauer zu werden, vielmehr begann ihn das Instrument dort zusehends zu faszinieren. Seine Kenntnisse gewann er autodidaktisch auf der Basis seiner eigenen beruflichen Herkunft als „Mechanicus“. 1826 verwirklichte Furtwängler zwei mit der Orgel verwandte Instrumente, die er als Panphoneterion oder Orphoneon bezeichnete. Zunehmend entdeckte er dabei seine „Bestimmung für den Orgelbau“. Schließlich reüssierte er als Orgelbauer: am 30. Mai 1836 schloss Furtwängler einen Vertrag mit dem Magistrat der Stadt Gronau über die Wiederherstellung der schadhaften Orgel in der St. Matthäikirche mit einem Volumen von 157 Reichstalern, 24 Mariengroschen und 5 Pfennigen.
Mit einem Mal schleichen sich zwanzig Kindergartenkinder Hand in Hand und still wie die Mäuschen in die Kirche. Je eine Erzieherin markieren Anfang und Ende des Lindwurms. Und während die Orgel spielt, finden sie im Kirchenschiff einen Platz. Das erwachsene Auditorium lauschte bis dato der Darbietung in innerer Versunkenheit oder versonnen den wunderbaren Flügelaltar von 1415 betrachtend und wagte nur ganz gelegentlich einmal den Kopf zu wenden, um dem Organisten bei seinem Spiel ansichtig zu werden. Ganz anders die Kleinen in ihrer nie versiegenden Neugier. Schließlich sind sie wegen der Musik gekommen und nun wollen sie auch sehen, wie sie entsteht. Also knieen sie Seit an Seit umgekehrt auf den Kirchenbänken, lehnen die Bäuchlein gegen die Rückenlehnen und recken die Köpfe in die Höhe. Und in der Betrachtung der Kinder und ihrer staunenden Hingabe an die Musik wird klar, warum die Orgel die Königin der Instrumente ist. Und warum die Gronauer Orgel eine Kaiserin unter den Königinnen ist.
Nach dem langgezogenen Schlussakkord breitet sich für einen Augenblick tiefe Stille im neugotischen Kirchenraum aus. Eigentlich die Zeit für den Virtuosen, sich vom Thema mit Variationen in D-Dur von Felix Mendelssohn-Bartholdy zu lösen und innerlich auf das nun folgende Pièce d’Orgue von Johann Sebastian Bach einzustimmen. Und Zeit für das Publikum, die Musik in sich nachklingen zu lassen. Doch kaum ist für die noch jungen Ohren kein Ton mehr zu vernehmen, da brandet von vierzig kleinen Händchen spontaner Szenenapplaus auf. So überraschend, hell und frenetisch, dass der junge Meister Hlinka sich überrascht von seiner Orgelbank erhebt und tief unten in strahlende Gesichter blickt. Da huscht ihm ein breites, vielleicht sogar ein wenig stolzes Lächeln ins Gesicht. So schön kann Musik mit Kindern sein! In dieser Pause machen sie sich auch leise wieder auf die Socken, denn die klugen Erzieherinnen wissen, dass man den Spannungsbogen nicht überziehen sollte.
In den Jahren nach seinem ersten Kontakt mit dem Nachbarort Gronau und der Reparatur der Orgel dort ging es für Philipp Furtwängler steil bergauf. Stück für Stück baute er neue Instrumente, reparierte und gestaltete um. Die Mehrzahl seiner Werke findet sich im Leinebergland, doch er arbeitete im gesamten Königreich Hannover. Insgesamt fertigte seine Werkstatt zu seinen Lebzeiten 71 neue Orgeln. ein zweites Standbein waren Turm- und Bahnhofsuhren – wobei Letztere in dieser Zeit verstärkt nachgefragt wurden. Die Söhne Wilhelm und Pius führten die von ihm gegründete Firma nach seinem Tod am 9. Juli 1867 fort. Mit einer wechselvollen Firmengeschichte besteht sie bis heute fort.
Auf dem Höhepunkt seines Schaffens bot sich dem Orgelbauer die Chance, ein Referenzstück zu bauen, eine Orgel, welche die Summe all dessen darstellte, was er im Orgelbau realisieren wollte. Gerne hätte er ein solches Instrument wohl in Elze errichtet, wo er seines guten Charakters halber inzwischen ein allseits geachtetes Mitglied der Gesellschaft geworden war.
Möglich wurde dieses Instrument indes nebenan, in Gronau. In den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts war das Kirchenschiff der Matthäikirche irreparabel baufällig geworden, obschon es zuvor neu bedacht worden war. Mit kühner Baukunst wurde nach den Plänen des hannoverschen Oberhofbaumeisters Georg Laves unter dem neuen Dach das alte durch ein neu(gotisch)es Kirchenschiff ersetzt. Die in ihrer Anmutung dann quasi neue Kirche wurde am 10. April 1859 eingeweiht.
Was fehlte, war ein würdiges Instrument. Das lieferte Philipp Furtwängler ein Jahr später als sein Glanzstück: ein Orgelwerk mit 57 Registern und 3.596 Pfeifen auf drei Manualen und Pedalwerk. Der Preis von 2.565 Reichstalern darf als ausgesprochen günstig angesehen werden. allerdings fügte der Meister auf eigene Rechnung neun Register hinzu, „um sein Werk zu vervollkommnen.“ Heute verfügt die Orgel über 58 Register und 3.861 klingende Pfeifen. Die Resonanz in der Fachwelt war überwältigend: „Die Kirche besitzt [...] unstreitig eins der bedeutendsten Werke dieser art in unserem Vaterland.“, stellte der Gronauer Pastor (primarius) August Philipp Sauerwein bei der Einweihung am 23. September 1860 fest. Und der renommierte Hamburger Orgelrevisor Georg Heinrich Friedrich Armbrust (Organist der Hamburger St. Petri-Kirche und Dirigent der Hamburger Bachgesellschaft) sah nach Überprüfung der Orgel in Furtwängler „einen tief denkenden Künstler“, dem es gelungen sei, „ein großartiges Kunstwerk aufzustellen, das selbst einem größeren Raum, als die Gronauer Kirche biete, würdig auszufüllen im Stande ist.“
Wie prächtig ein Werk auch sein mag, nie ist es vor dem Zahn der Zeit gefeit; namentlich eine mechanische Schleifladenorgel ist ein sensibles Artefakt. 1981 wurde die Orgel von der Firma Gebrüder Hillebrand aus Altwarmbüchen restauriert und alle seit dem Bau der Orgel vorgenommenen Dispositionsänderungen wurden rückgängig gemacht. Im Laufe der frühen 2000er Jahre schlichen sich zunächst nur dem geschulten und mit Orgel und Raum verbundenen Ohren wahrnehmbare Misstöne ein. Die besorgniserregende Verfassung aber schritt fort, bis schließlich allgemein sinnfällig wurde: Die im letzten Jahrtausend letztmals dem Jungbrunnen entstiegene ist erneut in die Jahre gekommen.
Die Theologie nennt es „kairos“ (Καιρός), wenn sich zum richtigen Zeitpunkt die richtigen zusammenfinden. 2012 trat Stephan Dreytza als vitaler Vikar der gemeinde voller Energie in den Dunstkreis des schwächelnden Instruments. Als gelernter Fundraiser konnte er die Spendenakquise der gemeinde professionell befördern. Sein Lieblingsprojekt waren die Tastenpatenschaften: 30 bis 500 Euro ließen sich Orgelfreunde eine Patenschaft kosten. „Der Clou daran ist die Möglichkeit, bestimmte Töne ganz persönlich zu kombinieren. Man kann als Freund des komponisten Johann Sebastian Bach also zum Beispiel die Patenschaften für die töne B, A, C und H übernehmen“, lautete eine seiner kreativen Ideen.
Unter dem Motto „Die Königin hat Asthma“ formierte sich eine Projektgruppe, der es gelang, Furtwänglers größte auch klanglich wieder groß zu machen. Erneut konnte Hillebrand gewonnen werden, das Asthma auszutreiben und frischen Lebensodem einzuhauchen. auch die Stiftung Orgelklang war angetan von dem Engagement der Akteure um das Pastorenehepaar Richter. Im Oktober 2016 wurde Gronaus Liebling „Orgel des Monats“. 4.500 Euro steuerte die Stiftung zum Gesamtvolumen von 217.000 Euro bei. Nicht viel, aber doch ausreichend, da die gemeinde aus eigenen Kräften ein beachtliches Viertel der kosten selbst stemmte.
Nun ist alles fertig. Aber zu welchem Ergebnis haben die Bemühungen der fleißigen Geldsammler, der haupt- und ehrenamtlichen Gemeindekoordinatoren und der Orgelbauer aus Altwarmbüchen schlussendlich geführt? Das ist Anfang Juni 2018 bei der „Orgelmusik zur Marktzeit“ die entscheidende Frage. Denn es hat sich zur kirchenoffiziellen Abnahme der arbeiten als eine art „Orgel-TÜV“ eine hochkompetente Kommission aus Sachverständigen der hannoverschen Landeskirche angekündigt. Am Ende der Darbietung, nachdem Mendelssohn-Bartholdys 2. Sonate in C-moll verklungen ist, löst sich die Spannung. Dort, wo es für die kundigen hingehört, ans Ende des Konzerts, spendet die Kommission Applaus, der mehr als artig ist. Ihr begeisterter Beifall gilt dem Musiker Robert Hlinka ebenso wie dem Instrumentenbauer Philipp Furtwängler und seinem Glanzstück, der nimmermüden Gemeinde und den Orgelbauern der Firma Hillebrand. Glückliche Gesichter allüberall, es ist jeden tropfen Schweiß der edlen und jeden Cent der Stiftung Orgelklang wert, was hier unterm grünen Kirchturm passiert ist.
Von Thomas Rheindorf
Diese Reportage erschien erstmalig im Jahresbericht 2017 der Stiftung Orgelklang.